Stefan Hetzel

Unfall

Eigentlich waren wir zusammengekommen, um uns zu vergnügen. Der Maler, der unschuldige Maler und ich, und mein Freund Willi, das selbsternannte Genie, der gerne hätte, dass ihm die Massen huldigten, obwohl er die Massen eingestandenermaßen verachtet. Dann war da noch ein Vierter, ein vierter Typ, dubiose Existenz, behauptete immer wieder, Fotograf zu sein.

Der Wagen war schon sehr betagt und gehörte dem Maler, glaube ich. An die Marke kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Weiß nur, dass die Kiste klapprig war, ich meine, richtig klapprig. Warum ich fahren sollte, ist mir ebenfalls entfallen. Vielleicht hatte der Maler schon etwas getrunken, ja, ich bin mir jetzt ganz sicher, der Maler und der Fotograf, übrigens auch Willi, hatten Bier getrunken.

Die Mühle war heruntergekommen, bewusst vernachlässigt worden, sollte demnächst abgerissen werden, einem Neubau weichen. Willi wohnte hier ganz billig, hatte riesige Räume zur Verfügung, mit schimmligen Wänden allerdings, unbeheizbar, einige waren gefährlich, weil bei Regen manchmal Teile des Deckenverputzes herunterklatschten. In einem dieser leeren, mit Holz ausgelegten Räume hatte ich ein von Willi geliehenes Feldbett aufgestellt. Quartier gemacht. Aber ich wollte ja von dem Unfall erzählen.

Nun, wie gesagt, wir stiegen zu viert ins Auto und ich sollte fahren. Es war gerade am Dunkelwerden und es war Samstagabend, also würde einiger Verkehr zu erwarten sein. Doch hatten wir nur ein paar Kilometer zu fahren, ins nächste Dorf, Szene-Gaststätte "Übel". Frotzeleien um diesem merkwürdigen Namen. Der unschuldige Maler: "Geh' ich ins 'Übel', muss ich kübel'." Der Fotograf lacht meckernd und unsympathisch. Willi lacht mit, wie so oft, immer will er mitlachen.

Der Mühlbach rauscht. Kiefern knarren. Ein Käuzchen schreit. Plötzlicher Zuglärm von der nahen IC-Trasse. Es ist soweit, ich starte den Wagen. Springt brav an. Scherzen, Lachen. Vier Endzwanziger aus dem Kreativ-Bereich wollen sich jetzt vergnügen, wollen trinken, ihre Mittelmäßigkeit vergessen, ihren gekränkten Stolz, ihre Empfindlichkeiten.

Von der Landstraße, 50 Meter voraus die Auffahrt, hört man dramatisches Reifenquietschen. Dann eine Sekunde nichts, dann einen dumpfen Aufprall.

Ich sage trocken: "Ich glaube, das war ein Unfall." Meine Bemerkung geht in der angestrebten Launigkeit unter. Als wir die Auffahrt erreicht haben, auf die Landstraße eingebogen und 50 Meter gefahren sind, sehen wir es.

Wir sind die ersten am Unfallort. Frontaler Zusammenprall. Beide Pkws total zerstört. Mitten auf der Fahrbahn. Ein Mädchen schreit: "Mensch, holt ihn doch da raus!"

Ich stoppe den Wagen, weil die Fahrbahn ohnehin blockiert ist. Das Gespräch erstirbt. Wir steigen langsam aus, machen unsichere Gesichter, wollen betroffen aussehen und schaffen es nicht, sind mit uns allein.

Ganz allein.

Ich weiß nicht genau, wieviele Personen das waren am Unfallort. Ich glaube, ein junger Mann lag im Straßengraben, das erwähnte Mädchen schrie herum, zwei bis drei Menschen standen in der Gegend und irgend jemand muss wohl noch in einem der stillen Wracks eingeklemmt gewesen sein.

Ich denke "Warndreieck austellen, Unfallstelle absichern". Frage schon den Maler nach dem Teil. Natürlich im Kofferraum. Beim Ersatzreifen. Herausgezerrt, hastig. Jetzt steigt langsam, aber stetig, eine Rastlosigkeit, Nervosität in mir auf. Heftiger werdend, zehrend, Schweiß überall plötzlich. Gleichzeitig beginne ich zu frieren, obwohl wir den schönsten Hochsommer haben. Das Mädchen schreit jetzt noch lauter.

Es macht "Puff" und der Wagen mit dem mutmaßlich Eingeklemmten geht in Flammen auf. Das Mädchen schreit hysterisch laut, die Stimme krampft sich zu einem verzweifelten, stockenden Schluchzen zusammen. Gleichzeitig sehe ich einen Löschzug mit quietschenden Reifen um die Ecke biegen. "Profis, die Profis sind da", schießt es mir durch den Kopf und eine merkwürdige Entspannung durchströmt rasch meinen eben noch verkrampften Körper.

Ich beobachte die anderen. Der Fotograf und der Maler schauen mit sehnsüchtiger Demut in die nun heftig auflodernden Flammen: Sie haben ein Bild gefunden. Tun alles, um es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich glaube, Genuss aus ihren Mienen herauslesen zu können.

Aus dem brennenden Wrack glaubte ich ein qualvolles Stöhnen zu hören, das Stöhnen des sterbenden Eingeklemmten, aber ich bin mir da nicht mehr so ganz sicher.

Ich halte das eingepackte Warndreieck in meine kalten, schweißüberströmten Händen und laufe die Straße zurück. Zurück, an der Mühle vorbei und bis zum Ende der scharfen Linkskurve, die für ankommende Fahrzeuge die Sicht auf die Unfallstelle versperrt. Heldenfantasien eines pubertierenden Jünglings: Ich ernenne mich spontan, aus dem Nichts heraus, zum Verkehrs-Regler. Ja, ich kann mich jetzt beweisen, fantasiere von Männlichkeit, Tatkraft, Mut, Entschlossenheit, während die andern verträumt den Todesschreien des Verbrennenden lauschen. Sie werden viel davon erzählen in ihren Kreisen. Werden angeben: "Ich war dabei." - "Ich hab's gesehen." - "Ich hab's gehört." - "Beinahe wären wir dran gewesen." Undsoweiter.

Noch bevor ich das Warndreieck aufstellen kann, kommt mir der erste Wagen entgegen. Ich stelle mich halb in die Fahrbahn mache eine zum Boden zeigende Bewegung mit beiden Armen, um den Wagen zum Stehenbleiben zu bewegen. Es sitzt eine Frau am Steuer des neuen Mercedes'. "Da vorne ist ein Unfall. Die Fahrbahn ist blockiert. Am besten, sie kehren um." Besorgter Blick der Fahrerin. Taxiert mich in leicht lüsterner Samstagabend- Single-Laune, was ich jetzt sehr unpassend finde. Trotz Sichtbehinderung sieht man schwarzen Qualm aufsteigen. Die Fahrerin scheint mir zu glauben, dankt mir gar, fährt dann aber weiter, im Schritttempo. Auch sie will es sehen. Ich schaue ihr nach. Der Wagen rollt vorsichtig um die Kurve, hält dann in Sichtweite der Unfallstelle an. Bleibt stehen. Die Fahrerin rührt sich nicht mehr. Sie sieht den Tod. Aus sicherer Enfernung. Ihr Gesichtsausdruck hat etwas Zufriedenes, scheint mir.

Alle zwei, drei Minuten eine neues Fahrzeug. Jeder reagiert ein wenig anders: freundlich, gereizt, entgegenkommend, wütend, eilig, verschlafen. Meist aber: arrogant, ignorant, belästigt. Man mustert mich misstrauisch: Wer ist das? Ist er ein Polizist? Aber er trägt keine Uniform. Ein Geisteskranker? Einer, der sich wichtigtun will? Sicherlich. Und das ausgerechnet jetzt! Wo ich doch Termine habe heute abend! Wichtige Termine, die nun wirklich keinen Aufschub dulden! Was ist das für ein Typ? Steht da mutterseelenallein mitten in der Straße, hat vor sich ein Warndreieck aufgebaut, gestikuliert wichtigtuerisch herum ... egal, ich kann mich mit so einem Scheiß jetzt nicht befassen, ein paar Mal kurz auf die Hupe getippt, den Sonderling großzügig umfahren und weiter geht's! Zur Sicherheit noch kurz den Vogel zeigen im Vorbeirauschen. Ja, das war's ... Scheiße, was ist jetzt das? ... oh nein, ein Unfall, hab' ich heute aber auch ein Pech, wo ich doch so wichtige unaufschiebbare Termine hab' heute abend! Nur weg hier!

Der Probe, der schwarze Ford Probe, der mich eben fast umgefahren hat, muss abrupt in der Kurve abbremsen, um nicht in die Unfallstelle hineinzuschlittern. Der Fahrer hat keine Sekunde versäumt und sofort den Rückwärtsgang eingelegt, als er das Unglück sah. Ich sehe, wie sich sein roter Kopf nach hinten dreht, er wendet den Wagen schnell, gekonnt und nicht ohne Eleganz.