Stefan Hetzel

Strukturwandel im ländlichen Raum

Norbert Niemanns Roman "Willkommen neue Träume"

Norbert Niemanns dritter Roman "Willkommen neue Träume" hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zuerst war ich ja rundweg begeistert von der eigenwilligen, ausdrucksstarken Sprache, dem Reichtum und der Detailgenauigkeit der Beobachtung sowie der Realitätsbezogenheit der Darstellung. Auch der Hauptfigur des Asger, eines "Mannes ohne Eigenschaften" der Jetzt-Zeit, fühlte ich mich nahe. Also verschlang ich den 600-Seiten-Wälzer in wenigen Tagen.

Aber mit zunehmendem Abstand zur rabiat raschen Lektüre wachsen jetzt meine Zweifel. Warum hat Niemann dieses Buch überhaupt geschrieben? Um was geht es eigentlich? Mehrmals fiel mir als Antwort die Allerweltsphrase "Strukturwandel im ländlichen Raum" ein. Eine Politiker-Fernseh-Talkshow-Phrase. Aber trifft's das nicht genau? Es wird doch der Wandel von gesellschaftlichen Strukturen in einem zwar fiktiven, aber sicherlich irgendwo so oder so ähnlich existierenden oberbayerischen Dorf beschrieben, und zwar fast aussschließlich anhand des Fortgangs zwischenmenschlicher Beziehungen eines überschaubaren Kreises von Menschen: der aufs Land emigrierten narzisstischen Ex-Filmdiva (Hanna Schygulla? - Ein bisschen.), des cholerischen, ehemals bio-dynamischen, jetzt nur mehr noch pragmatischen Dorfbürgermeisters, Asgers, eines metaphysisch plötzlich obdachlos gewordenen Kulturfernsehjournalisten und Sohnes der Ex-Diva, des kleinbürgerlich-moralinsauren Archivars, in dem ich ein Konterfei des Autors zu erkennen glaube, der von der Profanität Deutschlands enttäuschten jungen russischen Hausangestellten, der Dorfschönheit, die zum Star einer Daily Soap mutiert, sowie einer Reihe weiterer Nebenfiguren. Was begeistert, ist die Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit dieses Personals bis hinein in Nebensächlichkeiten. Da schreibt einer wirklich über etwas, was er kennt wie seine Westentasche.

Bleibt die Frage nach der Motivation des Buches, seiner Stoßrichtung, seiner Message. Am Stärksten sticht die "Medienkritik" des Autors hervor. Das Fernsehen verdumme die Menschen, wird Niemann nicht müde zu predigen. Äh. Echt? Wahrlich kein neuer Tatbestand. Aber er muss sicherlich öfter mal neu formuliert und begründet werden, bei all' dem technologischen und soziokulturellen Wandel ständig. Ob das Niemann aber gelingt, möchte ich bezweifeln. Denn was kommt denn da wirklich an Argumenten?

Zum Beispiel das: Die Medien, speziell die Kulturberichterstattung, bauen eine nur um sich selbst kreisende Scheinwelt auf, die die wahren Bedürnisse der Menschen nach Sinnstiftung durch Kultur untergräbt, ja hintertreibt. Hmm. Hab ich irgendwie auch schon mal ... Gesundes Volksempfinden gegen Hochkultur-Schickeria? Oder wie?

Weiterhin: Das internationale Großkapital, beispielsweise in Form von Discount-Märkten, treibt lokale Einzelhändler in den Ruin. Richtig, aber was ist die Alternative - Tante Emma forever?

Drittens: Bauerndörfer, in denen keine Bauern mehr arbeiten, weil sich Landwirtschaft unter EU-Bedingungen einfach nicht mehr lohnt, sind gezwungen, sich nach anderen Erwerbsquellen umzusehen: Freizeitparks zum Beispiel für vergnügungswillige Großstädter, Naturlehrpfade für Kinder, die Eichhörnchen nur als Stofftier kennen. Natürlich wird so aus einem einstmals nüchternen, eventuell beschaulichen Standort agrarischer Produktion ein medientechnisch aufgerüstetes Musemusdorf voll kommerzieller Betriebsamkeit. Hm. Schlimm?

Niemann gibt sich alle Mühe, in einer Traumvision Asgers ganz am Schluss des Buches diese vermeintliche Zukunft des Dorfes so schaurig wie möglich zu schildern: asphaltierte Waldpfade für Power Walker, das ganze Dorf ein musealisiertes Ballermann-Areal, überwacht durch schwerbewaffnete Securitykräfte in alpenländischer Kostümierung. Eigentlich wäre hier Platz für hoch unterhaltsame Satire à la Jonathan Swift gewesen, doch Niemann präsentiert bloß grimmige bis bittere Sarkasmen, Humor ist wahrlich nicht seine Stärke (obwohl er oft am Rande desselben entlangschlittert). So wird der Hochkultur-Schickeria dieser Zukunftswelt Picassos Gemälde "Les demoisellles d'Avignon" als lebendes Arrangement aus chiroplastisch veränderten Unterschichtenmädchen präsentiert. Igitt!

Ein weiteres, ganz anders geartetes Rätsel stellen für mich der Romantitel und einige Kapitelüberschriften dar. Ich habe die Kapitelüberschriften bewusst erst nach Lektüre des ganzen Buches gelesen, da ich die Erfahrung gemacht habe, dass es, überspitzt formuliert, keine guten Kapitelüberschriften gibt. Entweder treffen sie den Kapitelinhalt, dann nehmen sie die Spannung 'raus, oder sie verfehlen ihn, dann leiten sie beim Lesen in die Irre, weil falsche Erwartungen geweckt werden. Oder, und so ist das bei Niemann, sie kommentieren den Kapitelinhalt von außen - dann wird der Lesespaß oft unnötig verkompliziert bis verdorben.

Zwei Kapitel, die zugegebenermaßen widerwärtiges Partygeplauder von Film- und Fernsehleuten, Schauspielern und Journalisten enthalten, sind doch tatsächlich "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1 und 2" betitelt. So heißt ein 1945 erschienenes gesellschaftstheoretisches Werk des österreichischen Philosophen Karl Popper, in dem dieser, Zitat Wikipedia, "detailliert mit den Gedankensystemen von Platon, Hegel und Marx" abrechnet, die nach Poppers Meinung "totalitäre Systeme theoretisch begründet und praktisch befördert haben." Platon heiße, so Popper, so Wikipedia, die diktatorische Herrschaft einer "explizit Lügenpropaganda" verbreiten dürfenden Elite von "Philosophenkönigen" willkommen. Diese seien die einzigen, die sich dem allgemeinen gesellschaftlichen Verfall entgegenstellen könnten. Ausgelöst sei diese Paralyse durch das Umschlagen emanzipatorischer sozialer Bewegung in Dekadenz und Degeneration. Nun, Niemanns Kulturmenschen-Bestiarium, das mich an einschlägige Karikaturen von George Grosz aus der Weimarer Zeit denken lässt, weckt zwar gehörig Ekel durch seine intellektuelle Oberflächlichkeit, beruflichen Opportunismus, pseudoerhabene Scharlatanerie, moralische Verwahrlosung, Drogenabhängigkeit, menschliche Erbärmlichkeit etc. - aber das Heraufdämmern eines Vierten Reiches scheint mir durch derlei im Grunde eher bedauernswerte Gestalten nicht vorbereitet zu werden.

Ist es nicht vielmehr so, dass jedem internet- und computergeprägten Vierzehnjährigen heute der Aberwitz dieses Fernsehkulturmenschentums eh klar ist? Dass Kreise, in denen immer noch Beuys' Satz "Jeder Mensch ist ein Künstler" als Nonplusultra zeitgenössischer Kunstauffassung gepriesen wird, diesem Vierzehnjährigen bestenfalls als putzig, im allgemeinen aber eher als strange und irgendwie gruftihaft vorkommen mögen? Nun, Norbert Niemann ist von einer derart lässigen Abgeklärtheit weitestmöglich entfernt. Vor allem in der Schilderung von Nebenfiguren lässt er seinem erschreckenden Hass auf das, was er als kulturelles Establishment zu identifiziern glaubt, freiesten Lauf. Offenbar hat der Autor hohe, ja höchste Erwartungen an die moralische wie menschliche Integrität des/der Kulturschaffenden und wundert sich ständig, das er auch hier nur auf: - Menschen trifft. Müssen also Künstler und Journalisten Heilige, Asketen, Engel und Priester sein, um diesem Autor Respekt einflößen zu können?

Und wie zum Teufel will Niemann den Romantitel "Willkommen neue Träume" verstanden wissen? Für sich genommen klingt das ja fast nach Arztroman. Aber humoristisch kann das bei näherer Kenntnis des Buches ja eigentlich auch nicht gemeint sein. Also doch wieder sarkastisch, grimmig abwinkend, traurig resignierend vielleicht? Das klänge dann fast schon wieder ein bisschen wehleidig, unter Umständen.

Rhetorisch hat mich die Gewalt des Autors fast während der gesamten 600 Seiten übermannt. Inhaltlich aber verpufft Niemanns oft recht wohlfeile, geradezu gemeinplätzige "Medienkritik" letztlich wieder. Man kennt das ja alles schon, diese Klage über die Stumpfheit des Durchschnittsmenschen, verursacht angeblich durch kritiklosen Medienkonsum - mein Gott, wie aufgeweckt, weltoffen und kritikfähig war denn der Durchschnittsmensch des komplett fernsehfreien Mittelalters? Im Unterschied zu diesem hat die Dumpfbacke von heute wenigstens die Möglichkeit, sich zu bilden, vielleicht auch und gerade durch einen vernunftgeleiteten Umgang mit dem Fernsehen (ja: es gibt arte, es gibt 3sat, es gibt Phoenix), dem Radio (Bayern 4 Klassik, Deutschlandradio) oder sogar dem Internet (Perlentaucher, Telepolis, Netzeitung, Blogs).

Wenn es um eine wirklich "schöne" neue Welt geht, wird der sonst so beredte Autor schweigsam - dazu scheint ihm so rein gar nichts einzufallen. Zu düster dräuen die Probleme am Horizont, scheint's. Eigentlich bisschen wenig für 600 Seiten.

Und jetzt kommt das eigentlich Erstaunliche an diesem Roman: man merkt ihm diese Einseitigkeit während der gesamten Lektüre nicht an. Niemann ist literarisch so versiert, so einfallsreich, so sprachschöpferisch, so beschwingt, dass sich seine Schreiblust unmittelbar in Leselust übersetzt. Man liest und liest, erfährt immer neue Schoten aus dem Leben der Ex-Diva, leidet mit an Asgers existenzieller Leere, empfindet den Zorn des Dorfbürgermeisters nach usw. Niemann hat durchweg kraftvoll gezeichnete, voll und ganz funktionierende literarische Figuren geschaffen, die seinen düsteren Stoff ohne große Mühe über die ganze lange Strecke tragen. Vielleicht sind ja diese Figuren in ihrer tiefen Menschlichkeit, ihrer Lächerlichkeit, ihrem Widerspruch, ihrem Scheitern und ihrer Hoffnung die eigentliche Leistung des Romans.

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Norbert Niemann: Willkommen neue Träume. Roman. München: Hanser 2008.