ICH online: Editorial der Nummer 2 Editorial Eibelstadt im Oktober 1998 Lyrik gehört sicherlich zum Entbehrlichsten menschlicher Kulturhervorbringung. Prosa als Ausdruck des metonymischen Verkettungsprinzips hat ja noch einen gewissen Unterhaltungswert, ist Kunst der Verschiebung: Man kann sich in ihr aufhalten, in ihr baden, ihr zustimmen oder sie aus sprachlichen, sachlichen, stilistischen, historischen, formalen oder intellektuellen Gründen ablehnen, ablegen. Lyrik hingegen, Ausdruck des metaphorischen Ähnlichkeitsprinzips, verstört und empört als Kunst der Verdichtung. Sie ist schlichtweg ein Skandal und passt nicht in eine Zeit, in der Texte als intellectual property gehandelt werden. Der Epiker sperrt das un-nennbare Bezeichnete aus, indem er Namen vertauscht. Das epische Schreiben ist eine Kunst der Kombinatorik, die Bezeichnungen berühren einander, geben einander Sinn. Eine kann buchstäblich ohne die andere nicht auskommen. Der Lyriker hingegen setzt ein Wort für ein anderes, eine Bezeichnung wird durch eine andere ersetzt. Das lyrische Schreiben ist eine Kunst der Selektion, Bezeichnungen werden zum Bezeichneten ver-dichtet. Die Metapher schafft sich ihren Sinn auf paradoxe Weise, weil sie gerade das verschweigt, was sie ausdrückt und gerade das ausdrückt, was sie verschweigt. Der Wissenschaftler stottert: "Umstritten ist ... das Wesen der Lyrik im allgemeinen." (Bernhard Asmuth: Vorbemerkung zu "Aspekte der Lyrik", dem Standardwerk für Studenten der Germanistik). Es wundert demnach nicht, wenn einige Beiträger dieses ICH #2 einem mehr oder minder kaschierten Selbsthass frönen: Wer Gedichte verfasst, kann ja wohl nicht ganz richtig in der Birne sein, hat irgend etwas verpasst, ist zu kurz gekommen, leidet an mangelnder Realitätsanpassung, ist unreif und pubertär, hat einen Tick, ist narzisstisch gestört oder egoman, onaniert obsessiv, vermeidet Sozialkontakte, ist psychisch krank oder zumindest labil, huldigt irgend einem Idealismus, hält sich für einen Künstler usw. usf. "Die einzige Eigenschaft, die jeder Art von Lyrik zukommt, ist ihre Kürze", so Asmuth. Eine in diesem Sinne kurz-weilige Lektüre wünscht Stefan Hetzel Postskriptum: Als Gegengift zu so viel ICH-Bezogenheit beinhaltet diese Ausgabe auch eine ausführliche Besprechung von Norbert Niemanns Romanerstling "Wie man's nimmt", einem erstaunlichen, profunden und intellektuell anregenden Buch zur "Lage der Nation" der schon 30-, aber noch nicht 40-jährigen hierzulande. Vergeßt Ingo Schulze, lest Niemann!