ICH online: Editorial der Nummer 1 Editorial Eibelstadt und Köln im September 1997 Allen, gerade auch den kritischen, Lesern der 0-# unseren herzlichsten Dank für das Interesse an unserem Projekt. Wir haben uns auch für die vorliegende #1 bemüht, wieder authentische Text-Dokumente von hoffentlich literarischer Qualität zusammenzutragen. Dabei hat sich ein "harter Kern" von Beiträgern stabilisiert, der neben den Herausgebern aus Anja Dyes, Würzburg, und Ralf Schuster, Cottbus, besteht. "Mein Lieblingsautor" heißt das Schwerpunktthema dieses Heftes. Die Auswahl der ICH-Autoren ist erwartungsgemäß heterogen ausgefallen. Unser Art Director Guido Zimmermann trug dem cover-mäßig Rechnung: wohl selten sah man bisher Elfriede Jelinek in Gesellschaft von "Tödliche Doris"-Kombattant Wolfgang Müller... --- ICH-Interessentin Ruth Kranz aus Nürnberg hörte von unserer 0-# und schrieb mir, S. H.: Leider habe ich bis jetzt in der Literatur meiner Altersgruppe noch nichts gefunden, was mich [...] auch nur annähernd befriedigt hätte, auch sind mir bisher noch keine Theorien zu einer deutschen GenX untergekommen (zumindest keine aus den eigenen Reihen: Manchmal befürchte ich, daß viele von uns im Selbstmitleid über die verpaßte "große Zeit" des Aufbegehrens + Veränderns versauern, während uns unsere jüngeren Geschwister, die auf jene glorifizierte Zeit schlichtweg scheißen ((und die schon jetzt dominanter auftreten als wir)) als Generation überrollen, bevor wir auch nur richtig realisieren, daß wir mehr hätten sein können, als der unglückselige Nachwuchs jener Helden, die uns vermeintlich nichts mehr zu tun übriggelassen haben...)." Also ich sehe das so: als Generation X definiere ich in den 60er Jahren Geborene, die ich damit sowohl von den 78ern (nach Matthias Politycky) als auch der nachfolgenden Generation Y (die in den 70er Jahren Geborenen) abgrenze. GenX- Literaten sind demzufolge qua Geburtsjahr beispielsweise Helmut Krausser und Ingo Schramm sowie alle ICH-Schreiberlinge. Du willst Theorie? Du kriegst Theorie: Die deutsche Generation X zeichnet sich aus durch ihr explizites here not longer & not yet there. Geprägt durch politischen Pragmatimus und wirtschaftlichen Erfolg ihrer großen Brüder, der 78er, stürzte sie im Lauf der 90er Jahre ins kalte Wasser der wirtschaftlichen Rezession sowie ins lauwarme Bad der kulturellen Stagnation (das Phänomen "Retro"). Resultat ist ein von äußerster Ernüchterung geprägtes Lebensgefühl, das gelegentlich in künstliche Euphorie und Schein-Heiterkeit (Love Parade) ausbrechen muss, um "die Realität" zu ertragen. Es galt (und gilt jetzt erst recht), Strategien der Bescheidenheit zu entwickeln. Hier scheiden sich die Geister: die Bequemen verfallen in Regression ("Als Willi Brandt Bundeskanzler war, waren Cindy & Bert noch ein Paar..") und in das von dir richtig erwähnte Selbstmitleid ("Uns wird es wirtschaftlich nie mehr so gut gehen wie unseren Eltern!"), die Anspruchsvollen aber (ICH-Autoren/Leser sind anspruchsvoll) halten ihr Fähnlein aufrecht und weisen lästigerweise auf Dinge hin, auf die sonst keiner hinweist: moralische Verelendung der Mittelklasse, Verschrobenheit als Defensiv-Strategie in der Kunst-Szene, Durchwurschteln als ultima ratio einer Intellektuellen-Existenz. Wir sind weder in eine "große Zeit des Aufbegehrens" (das waren die 68er) noch in eine des "Veränderns" (Aufgabe der 78er) hineingeboren, sondern in eine Zeit des Aushaltens. Hat mensch diesen Perspektivenwechsel erst einmal verinnerlicht, bleibt zum "Versauern" keine Zeit. Sich als "unglückseliger Nachwuchs" erfolgreicher und aktiver "Helden, die uns [...] nichts mehr zu tun übriggelassen haben" zu fühlen, erscheint jetzt ebenfalls als verfehlt, weil den Erfordernissen des Heute unangemessen. Es geht in unserer Generation darum, die Augen offenzuhalten und in großer Freimütigkeit und ohne Hass auf Unappetitliches hinzuweisen, wo auch immer es einem begegnet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. --- Anja Dyes begegnet der feministischen Ikone Elfriede Jelinek mit lakonischer Ironie und beobachtet Männer beim Onanieren, James Hank Cochran (ja, dies ist ein Pseudonym) verknüpft Liebesleben und Fantum, Holger Liebs kann sich an erotomaner Sub-Poesie begeistern und philosophiert über die Nicht-Mitteilbarkeit ästhetischen Erlebens. Ralf Schuster sucht und findet seinen Lieblingsautor Wolfgang Müller in Berlin und verrät uns, wie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel von existenziellem Nutzen sein kann. Stefan Hetzel schließlich versucht uns das hermetische Oeuvre Wittgensteins näherzubringen und schildert Katastrophisches. Viel Spaß beim Lesen wünschen Stefan Hetzel und Holger Liebs